100 грамм Wurst und Tschaikowski

Vor 30 Jahren löste sich die Sowjetunion auf. Aber was hat unser Titel damit zu tun? Zwischen schlechter Wurst und Tschaikowskis Ballett „Schwanensee“ versuchen wir die chaotische Zeit der 1990er im (post-)sowjetischen Raum zu fassen. Wir sprechen über den politischen und gesellschaftlichen Zerfall der Sowjetunion, über das Erstarken von Nationalismus und über bewaffnete Konflikte, die aus dem Zusammenbruch heraus entstanden sind. Wir verraten aber auch, wie man 20 Kilo Butter in handelsübliche Größen zerteilt und wie es ist, bei -35°C ewig auf den Bus zu warten.

100 Gramm Wurst & Tschaikowsky: FOLGE ALS MP3


Musik

Я люблю этот город, но зима здесь слишком длинна.
Я люблю этот город, но зима здесь слишком темна.
Я люблю этот город, но так страшно здесь быть одному.
И за красивыми узорами льда мертва чистота окна.

Фонари за окном горят почти целый день,
В это время я не верю глазам, я верю часам.
И теперь я занят только охраной тепла.
Вот ушёл ещё год, сколько останется нам?

Ich liebe diese Stadt, aber der Winter hier ist zu lang.
Ich liebe diese Stadt, aber der Winter hier ist zu dunkel.
Ich liebe diese Stadt, aber es ist so beängstigend, hier allein zu sein.
Und hinter den schönen Eismustern ist die tote Sauberkeit des Fensters.

Die Laternen vor dem Fenster brennen fast den ganzen Tag,
In dieser Zeit traue ich nicht meinen Augen, sondern der Uhr.
Und jetzt bin ich nur noch damit beschäftigt, die Wärme zu bewahren.
Schon wieder ist ein Jahr vorbei, wie viel Zeit bleibt uns noch?

Год новый наступил
Кушать стало нечего
Ты меня пригласил
И сказал доверчиво
Милая ты моя
Девочка голодная
Я накормлю тебя
Если ты не гордая
Я накормлю тебя
Если ты не гордая

Два кусочека колбаски
У тебя лежали на столе
Ты рассказывал мне сказки
Только я не верила тебе

Наш свадебный салат
Платье подвенечное
И этот сервилат
Буду помнить вечно я
Ты стал теперь крутой
Никого не слушаешь
Помнишь ли, милый мой
Что с тобой мы кушали?
Помнишь ли, милый мой
Что с тобой мы кушали?

Ein neues Jahr ist angebrochen.
Zu essen gibt es nichts.
Du hast mich eingeladen
und sagtest vertrauensvoll:
„Meine Liebe,
Du bist ein hungriges Mädchen
Ich gebe dir was zu essen.
Wenn du dafür nicht zu stolz bist

Zwei Scheiben Wurstlagen auf dem Teller.
Du hast mir Märchen erzählt
Nur habe ich dir nicht geglaubt

Unser Hochzeitssalat,
Das Hochzeitskleid
Und diese Servilat-Wurst
Werde ich ewig in Erinnerung haben.

Du bist jetzt ein Gangster,
Du hörst auf niemanden
Erinnerst du dich, mein Schatz
Was wir früher gegessen haben?

[…]

Автомат, да вагон удачи…
Только парень опять невесел
Письма ходят, девчонка плачет,
Добавляя куплеты в песню

Уже год идёт наступленье,
И пылают чужие хаты
Враг бежит, но что интересно,
Что похожи вы с ним, как братья

Как и ты, дрался с пацанами
Со двора, руки разбивая
Провожали его ребята,
И девчонка его рыдает

И обидно, что случай дался б,
Он бы бил бы тебя с лихвою –
Коль однажды врагом назвался,
Будь хотя бы врагом-героем

И вместо проклятий, ему посвящая живые стихи,
Смеёшься о том, что не смерть бы, а водку из этой руки
Дрожит в амбразуре закат и ухмылка ползёт по щекам,
Как славно бы выпить сейчас по сто грамм таким лютым врагам…

Припев:
Враг навсегда остаётся врагом,
Не дели с ним хлеб, не зови его в дом
Даже если пока воздух миром запах,
Он, хотя и спокойный, но всё-таки враг

Если он, как и ты, не пропил свою честь,
Враг не может быть бывшим, он будет и есть
Будь же верен прицел, и не дрогни рука,
Ты погибнешь, когда пожалеешь врага

Это присказка, а не сказка,
На войне горе воет волком
Слово „лирика“ здесь опасно,
Тот, кто ноет, живёт недолго

Дан приказ – он оборонялся,
В темноту по тебе стреляя
По горам ты за ним гонялся,
По себе его вычисляя

Те же жесты, одни привычки,
Боже, может и вправду братья?
Не убить – самому не выжить,
Ох, придти, расспросить бы батю!

А в прицеле дрожало небо
Слёз не пряча, и бой был долгим
Жаль, что он тебе другом не был,
Ты сильнее… И слава Богу!

[…]

Ein Maschinengewehr und eine Wagenladung Glück…
Nur der Junge ist nicht glücklich
Briefe gehen herum, das Mädchen weint,
Fügen dem Lied weitere Strophen hinzu.

Es war ein Jahr der Offensive:
Die fremden Hütten brennen,
Der Feind flieht, doch was interessant ist,
Ihr ähnelt euch wie Brüder.

Wie auch du, kämpfte auch er mit den Jungs
Vom Hof, seine Hände zerschmetternd
Die Jungen verabschiedeten ihn,
Und sein Mädchen schluchzt.

Und es ärgert, denn hätte es die Chance gegeben,
Er hätte dich zu Brei geschlagen –
Wenn du dich schon als Feind bezeichnest,
Sei wenigstens ein heldenhafter Feind.

Anstelle von Flüchen widmest du ihm ein Gedicht,
Du wünschst dir, es käme nicht der Tod, sondern Wodka aus seiner Hand
Der Sonnenuntergang zittert in der Schießscharte und ein Lächeln huscht über deine Wangen,
Wie schön wäre es, jetzt hundert Gramm auf solch erbitterte Feinde zu trinken…

Refrain:
Ein Feind ist immer ein Feind,
Teile dein Brot nicht mit ihm, bring ihn nicht in dein Haus.
Selbst wenn die Luft nach Frieden riecht,
Er ist zwar friedlich, aber dennoch ein Feind.

Wenn er, wie du, seine Ehre nicht versoffen hat,
Ein Feind kann nicht ein ehemaliger Feind sein, er bleibt ein Feind.
Möge das Gewehr treu bleiben und die Hand nicht zittern –
Du wirst sterben, wenn du Mitleid mit deinem Feind hast.

Dies ist, kein Märchen,
Im Krieg heult der Kummer wie ein Wolf
Das Wort „Lyrik“ ist hier gefährlich:
Wer jammert, lebt nicht lange

Der Befehl war gegeben – er verteidigte sich,
In der Dunkelheit auf dich schießend.
Du jagtest ihn durch die Berge,
Seine Bewegungen über die eigenen berechnend.

Dieselben Gesten, dieselben Gewohnheiten,
Gott, sind wir wirklich Brüder?
Wenn du ihn nicht tötest, kannst du nicht leben,
Oh, könnte ich nur meinen Vater befragen!

Im Zielrohr zitterte der Himmel,
Keine Tränen wurden verborgen, der Kampf war lang,
Ich wünschte, er wäre dein Freund gewesen,
Du bist stärker… Und Gott sei Dank!

DIE Tasche zum Geschäftemachen in den 1990ern.

Das unternehmerische Selbst und DIE Tasche zum Geschäftemachen in den 1990ern.

Für die meisten Leute in den postsowjetischen Ländern hieß „Mode“ in den 1990ern, sich so zu kleiden, wie man es gerade konnte. Hier ein paar Beispiele aus der Provinz: Das waren die 90er, wir kleideten uns, wie wir konnten: Erinnern wir uns an die verrückten Kombinationen der Tjumener in der wilden Epoche // Это были 90-е, мы одевались как могли: вспоминаем сумасшедшие сочетания одежды тюменцев в эпоху «лихих» .

Klamotten shoppen im Russland der 1990er: Базары in der Provinz.

Die Beschaffung der Modestücke musste auf Kleidungsmärkten stattfinden. Im sibirischen Winter waren viele von Kopf bis Fuß in Fell gekleidet und mussten sich auch noch in die überfüllten Busse quetschen.

Татьяна Яковлевна 1993

Татьяна Яковлевна 1993

Antonias Eltern im Frühling 1992 mit Baby im Arm und Hippies im Wald.

Antonia Iwanownas Eltern im Frühling 1992 mit Baby im Arm und Hippies in karpatischen Wäldern.


Literatur

  • Alexijewitsch, Swetlana (2015): Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus // Светлана Алексиевич (2013): Время секонд хэнд

„Ich komme nicht mehr mit … Ich gehöre zu denen, die nicht mitkommen …  Aus dem Zug, der in den Sozialismus eilte, steigen alle schnell um in den Zug, der in den Kapitalismus führt. Ich ereiche ihn nicht… Sie lachen über den „Sowok“ … Nennen ihn „Vieh“ oder „Trottel“. Sie lachen über mich… Die „Roten“ sind heute Bestien, die „Weißen“ dagegen Ritter. Mein Herz und mein Verstand sträuben sich dagegen, rein körperlich wehre ich mich dagegen. Akzeptiere es nicht. (…) Anstelle der lichten Zukunft hieß es nun: Bereichert euch, liebt das Geld… Betet dieses Tier an! Das ganze Volk war darauf nicht vorbereitet. Niemand hatte vom Kapitalismus geträumt, von mir weiß ich das  ganz genau, ich habe nicht davon geträumt… Mit gefiel der Sozialismus. Die Breschnew-Jahre.. die waren schon harmlos… Die blutrünstige Zeit habe ich nicht mehr erlebt… Ich habe die Lieder von Alexandra Pachmutowa gesunden: „Unter unserem Flugzeug, da summt vor sich hin das sattgrüne Meer der Taiga…“ Ich träumte von fester Freundschaft und davon, in der Taiga „himmelblaue Städte“ zu bauen. (…) Ich kann mich über dieses neue Leben nicht freuen! Ich werde mich nie darin wohlfühlen, allein werde ich mich nie wohlfühlen. So vereinzelt.“ (Alexijewitsch „Second Hand Zeit“ 112 f.)

– Was heute ist, gefällt mir nicht, ich bin davon nicht begeistert. Aber in die Sowok will ich auch nicht zurück. Ich sehne mich nicht nach der Vergangenheit. Ich kann mich leider an nichts Gutes erinnern.

– Ich will zurück. Ich will nicht die sowjetische Wurst zurück, ich will das Land zurück, in dem der Mensch Mensch war. Früher hieß es „die einfachen Menschen“, heute „das gemeine Volk“. Spüren Sie den Unterschied? (335)

  • Olga Grjasnowa (2012): Der Russe ist einer, der Birken liebt
  • DJ Stalingrad (2013): Exodus // DJ Stalingrad (2011): Исход

„Wir alle gehören zu der ekelhaften postsowjetischen Generation. Wir haben nichts, keine Ziele und Prinzipien, doch als Erbe von hundert Jahren Kommunismus blieb uns die Sehnsucht. Der Sowjetmensch sollte nichts wollen, persönliches Glück, Freude im Alltag, Freizeitvergnügen, all das, alle Lebensziele des westlichen Siegertyps, rief Spott und Naserümpfen hervor. Der sowjetische Gigant lebte, um sein ehrliches einfaches Leben zu opfern – auf der Baustelle, im Gulag, an der Schießscharte, im Bergwerk, in der kinderreichen Familie, im widerwärtigen Fünfgeschosser. Das Leben – eine Heldentat, ein Opfer. Wir brauchen keinen Jesus, weil hier alle Jesus sind“ (50)

„Wenn ich jemanden besuche, schaue ich als erstes die Tapeten an –  wenn sie alt sind, mit Blümchenmuster, mit Wasserflecken und Blasen, oder Fototapeten, idiotische Kalender, dann bin ich in einem Haus, in dem man mich versteht. Hier wird ehrlich gelebt, niemandem geglaubt, auf viele herabgeblickt, endlos Tee getrunken und darauf gewartet, dass endlich alles vorbei ist. Herzlich willkommen in der Welt der Verlorenen, Hässlichen, Verschlossenen, Kurzsichtigen. Hier ist mein Zuhause, ich brauche kein anderes“ (62)


Augustputsch 1991

Oktoberputsch 1993


Info


Filme, Spiele, Tests

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